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Leben im Fluss! – Vom Versuch, ein Leben im Flow zu proklamieren

Seit bald 20 Jahren leben und (re)agieren wir im 21.Jahrhundert.
Die Digitalisierung, der globale Gedanke und die Transitionsbewegung halten uns atemlos. Der Umgang mit Zeit und Ressourcen wird immer schwieriger. Was ist eigentlich Zeit? Was eine Ressource? Was sind meine Ressourcen? Kann ich in Anbetracht zunehmender Komplexität im Fluss mit mir sein? Im Flow?

…«i mag eifach nitta!» sagt Rolf Schmid, der Komödiant mit diesem wunderbaren Bündner Dialekt. Und was er da sagt, ist meine Rede! Entkräftet sitze ich an meinem Arbeitsplatz und versuche mich in Motivation. Vor mir ein Stapel Arbeit, dem ich eigentlich nicht nachgehen mag. Lauter Problemstellungen, für die ich keine Lösung finde. Dabei bin ich visueller Gestalter und dazu selbständig – ich lebe den Traum vom kreativen Menschen! …und trotzdem bin ich gefangen. Die Arbeit, die sich da vor mir stapelt – welchen Sinn macht die eigentlich? Bringt sie der Welt etwas – bringt sie mir etwas? Aber ich muss doch Geld verdienen. Ich fühle mich als Opfer, fremdbestimmt, ausgeliefert an eine Business-Welt, mit der ich in Wirklichkeit nichts zu tun haben will. Ich bin der Ärmste! Das hilft zwar nichts, aber Suhlen im Selbstmitleid funktioniert. Willkommen im Schicksalsuniversum.

Vom Fluss. Dort wo die Schüss zur Taubenloch hinaustritt und entlang der Bürenstrasse fliesst – sie sich beruhigt hat von der Enge der Schlucht – fliesst sie verspielt, leicht und trotzdem rastlos Richtung See. Die Oberfläche kräuselt sich, windet sich, schäumt. Ganz als ob sie sich im Fliessen immer wieder der Frage nach Optimierung stellt.

Zurück im Büro. Mein Blick führt zum Fenster und von da in Nachbars Garten. Die Gartenrotschwänze fliegen schnäppernd umher und stossen ihren Nachwuchs zum Nest und in die Welt hinaus. Dazu scheint die Sonne und der Frühling spriesst. Am allerliebsten würde ich hinausgehen, in die Natur. Vielleicht Spazieren. Das liegt jedoch nicht drin! Zu viel zu tun. Der Tisch voller Pendenzen und schlechtem Gewissen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als dem Stapel den Kampf anzusagen. Nicht Opfer sein, Opfer bringen – schliesslich muss alles im Leben erkämpft werden. Also «Los von Rom»! Jetzt fühle ich mich bestärkt, parat für den Kampf. Willkommen im Macher-Universum.

Den einen fliegt die Zeit sprichwörtlich atemlos um die Ohren und sie sind froh, dass ihnen nicht langweilig dabei wird, und andere sind gestresst und finden als Kompensation in der Meditation zu einer inneren Ruhe. Tief durchatmen – the Good News first: Der Tag hat immer noch 24 Stunden und die Minuten sind auch im neuen Jahr nicht gekürzt worden. Seit Albert Einstein ist klar: Raum und Zeit sind relativ. Zeit wird von jedem Menschen unterschiedlich wahrgenommen. Wer sich seinem Flow hingibt, vergisst Raum und Zeit. Kann ich meine Zeit- und Raumwahrnehmung selber kreieren? Wirklich? 

Mihaly Csikszentmihalyi, emeritierter Professor für Psychologie an der Universität Chicago schreibt dem «Flow» folgende Eigenschaften zu: Kontemplatives Involviertssein, innere Klarheit – stets im Wissen, dass das was wir tun, wir auch in der Lage sind zu tun, höchste Motivation und Durchhaltewillen… und, wer im Flow ist, ist mit sich vollständig zufrieden und muss nicht belohnt werden…

Optimieren offenbart sich im Widerstand, nicht im Stillstand.

Wenn der Abendverkehr rollt oder meine Mitmenschen erschöpft im Zug von der Lohnarbeit heimkehren, kommt mir oft der Fluss in den Sinn. Wieso ist der Fluss nie erschöpft? Wie geht der Fluss mit Widerstand um? Tatsache ist doch, dass das Leben aus Widerstand besteht. Der weise Yogi geht noch weiter und sagt: «Widerstand ist ein Geschenk, Erfolg ein Test». Ist das nicht ein bisschen too much? 

Nun, mir gefällt die Natur als Lehrerin. Und wenn ich der Schüss zusehe, entdecke ich, dass sie dem Widerstand nie mit Kampf begegnet. Im Gegenteil. Sie sucht sich im Widerstand stets einen anderen, effizienteren Weg. Ich fantasiere und stelle mir vor, sie sei in einer Art «Fragemodus» um ihr Fliessen ununterbrochen zu optimieren. Der Fels im Flussbett stört sie nicht. Die Schüss «fragt» schlicht: auf welcher Seite soll ich den Felsen umfliessen? Ich begreife, dass Optimieren sich im Widerstand offenbart.

Noch heute sind wir dem Weltbild passend zur klassischen Atomlehre verfallen. Um einen Atomkern – bestehend aus Protonen und Neutronen – «fliegen» eine bestimmte Anzahl Elektronen auf einer klar berechneten Umlaufbahn. Der Quantenphysiker Werner Heisenberg (1901–1976) hat aufgezeigt, dass diese «berechnete» Umlaufbahn nicht existiert. O-Ton: «…ein Atom hat keinen Ort, solange ich nicht danach frage. Es besitzt eine Ladung und eine Ausdehnung. Wir Menschen haben Orte erfunden … wir kennen demnach die Natur nicht. Wir kennen nur die Teile der Natur, nach denen wir fragen…» 

Auf der atomaren Ebene der Welt ist demnach alles, ALLES offen. Nichts ist vorgegeben. Alles kann entstehen, alles kann sich immer wieder verändern, neu definieren. Genau dieses Phänomen beobachte ich in der Schüss. Sie ist in der Taubenlochschlucht, im Bielersee, in den sie mündet, aber auch in der Aare und im Ozean. Wasser ist überall! Wasser hat offensichtlich die Fähigkeit, sich immer wieder «neu» zu definieren und auszurichten. Wasser kann noch viel mehr als fliessen: kochen, verdunsten, sich zu Wolken formen, versickern, zu Eis werden. In jeder Situation hat Wasser die ausserordentliche Fähigkeit, sich zu verändern. Der Mensch besteht aus 80% Wasser! Müssten nicht auch wir Menschen – im übertragenen Sinne – etwas von diesen Fähigkeiten zur Verfügung haben?

Wenn ich die Quantenphysik und die Schüss-Wasser-Beobachtung in meinen Überlegungen verbinde, kann ich ja ebenfalls jederzeit meine Ressourcen «neu» denken, fühlen und danach handeln. Oder?
Ich stelle mir vor, die Schüss würde auf der Höhe Bürenstrasse immer noch emotional auf die enge Situation in der Taubenloch-Schlucht reagieren und eigenartig aufgeregt daherschiessen… nein, natürlich nicht, sie fliesst und optimiert. Für mich bedeutet das: Ich handle gefühlvoll aus dem Jetzt, die Emotionalität lasse ich beiseite und gebe mich der Optimierung meines Selbst hin.

Kann ich Flow selber herstellen?

Vom Botanischen Garten in Bern aus hat man einen wunderschönen Ausblick auf die Aare. Im letzten Sommer sass ich gemeinsam mit Lernenden in diesem Garten mitten in der Stadt und wir sind der Frage nachgegangen, ob Flow bewusst hergestellt werden kann. Die Antwort war klar: Nein! Alle waren sich jedoch einig, dass das Ausgehen am Wochenende durchaus eine Art Flow erzeugt. Wir wollten der Sache nachgehen und eine Bedienungsanleitung zum Flow erstellen. Was sind die Zutaten zum Wochenend-Ausgang? Hmm. Erstens: Wer in Flow kommen will, formuliert ein Ziel. Für die Lernenden heisst das Spass haben, Freundschaften pflegen, Tanzen. Interessant. Wir bemerken, dass wir im Alltag oft keine Ziele formulieren. Zweitens: Zeitfenster, nicht Zeitpunkt. Wenn sich die Lernenden zum Ausgang treffen, vereinbaren sie ein Zeitfenster, damit kein Stress entsteht. Drittens: Stets optimieren. Wir sind uns einig, dass wir im Ausgang dauernd in einer Art «Fragemodus» sind (…das kennen wir doch). Gefällt mir die Musik? Mag ich noch ein Bier? Gefällt mir der Typ da drüben? Bleiben wir noch eine Weile? Unser Blick fällt auf die Aare, die ruhig vor sich hinfliesst und wir bemerken dass auch sie ein Ziel hat, sich Zeitfenster einräumt und stets optimiert. That´s that.

Der Stapel im Büro ist immer noch nicht kleiner geworden. Die Probleme lassen sich partout nicht lösen. Kreativ sein auf Knopfdruck ist schier unmöglich. Das Schicksals- und Macher-Universum befriedigen mich nicht. Ich geht spazieren! Eine Stunde lang. In dieser Stunde beschäftige ich mich mit einer einzigen Problemstellung aus meinen Pendenzen und lasse diese beim Gehen mitfliessen. Bald schon entdecke ich tatsächlich ein Lösungsansatz und optimiere in Gedanken während ich durch die Taubenloch-Schlucht, der Urgewalt vor meiner Haustüre, spaziere. Wieder im Büro habe ich eine solide Lösung erdacht, die ich rasch umzusetzen weiss und bemerke, dass ich in meinen Gedanken, meiner Intuition, meiner eigenen Quelle, dem Fluss vertrauen kann…

Wenn wir in Bewegung sind wie der Fluss, das Ziel vor dem inneren Auge formuliert, können wir befreit durch die Welt gehen, im Wissen, dass sich die Antworten finden lassen – willkommen im Flow.

Während dem Spazieren ist mir noch eine Frage begegnet. Macht meine Arbeit überhaupt Sinn? Trägt sie der Welt etwas bei? Diese Frage stimmt mich ein bisschen traurig und ich bemerke, dass ich mich noch gar nie nach meiner Lebensaufgabe gefragt habe… darüber aber ein andermal.

Martin Albisetti führt seit 2016 seine eigene Schule re:format in Biel. Seither begleitet er Interessierte bei ihrer Suche nach einem sinnvolleren Lebensentwurf mit der Absicht, ihr Talent zu finden, ihre individuelle Ausprägung von Intuition bewusst zu machen und ein Umfeld zu schaffen, in welchem sie erfolgreich «performen» können.

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