In Chile herrscht seit Mitte Oktober ein sozialer Ausnahmezustand. Tägliche Proteste bringen die Unzufriedenheit der Chilenischen Bevölkerung mit dem neoliberalen System zu Tage. Eine mehrwöchige teilnehmende Beobachtung der Protestbewegung ergründet die unterschiedlichen Aspekte des Aufstands.
Es ist Freitag in Santiago de Chile. Und wie jeden Freitag seit dem 18. Oktober 2019 strömen nach Feierabend tausende Menschen Richtung Plaza Italia, Epizentrum der Proteste in Chile und mittlerweile kurzerhand umbenannt in Plaza Dignidad, Platz der Würde. Von Weitem jagen einem Tränengasschwaden das Wasser in die Augen. Unbeirrt wandern tausende Menschen aus allen Richtungen zum zentralen Platz des Unmuts. Zerstörte Busstationen, vollgesprayte und bemalte Wände, verbarrikadierte Schaufenster zeugen von den wochenlangen Protesten, die Chile in einem unruhigen Ausnahmezustand hinterlassen.
Sozialer Aufstand
„Estallido social,“ sozialer Ausbruch, wird die Gesamtheit der Protestbewegung genannt. Auslöser war eine Preiserhöhung der Metrotickets um 30 Pesos, rund 4 Rappen. Darauf reagierten Schüler und Studenten mit Blockaden der Metrostationen, die der Staat mit harter Polizeirepression zu unterdrücken versuchte. Dies war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, denn mittlerweile haben sich die Demonstrationen längst zu einem generellen Ausdruck des Unmuts über eines der neoliberalsten Systeme Südamerikas gewandelt.
Privatisierungen und Derregulierungen wurden unter der Militärdiktatur Pinochets Mitte der 70er Jahre auf sämtlichen Ebenen der Gesellschaft eingeläutet. Boden, Wasser, Gesundheitssystem, öffentlicher Verkehr, als Beispiele, werden allesamt von privaten Unternehmen kontrolliert. Dies ging nicht spurlos an der Gesellschaft vorbei. Eine extreme Wohnungsnot, ein Gesundheitssystem, das sich nur Reiche leisten können, oder die äusserst weite Schere zwischen arm und reich, sind nur einige Ausdrücke des neoliberalen Experiments, wie das politische und ökonomische System Chiles vielerorts genannt wird. Hinter dem Schleier des Fortschritts und eines am Konsum orientierten gehobeneren Lebensstils schlitterten immer mehr Chileninnen und Chilenen in prekäre Lebenslagen ab. Nicht wenige befinden sich in der Situation, nicht zu wissen, wie sie nächsten Monat über die Runden kommen sollen.
Laut Alberto Larraín, Psychiater und Autor, hat jede vierte Person im schmalsten Küstenland der Welt mit psychischen Problemen zu kämpfen, was der Autor vor allem mit einem sich ausweitenden Individualismus sowie der ungewissen ökonomischen Situation eines Grossteils der Bevölkerung in Verbindung bringt.[1] Gleichzeitig ermöglicht das System praktisch keine Partizipation der Bevölkerung an politischen Entscheidungen. Meldungen über Korruptions- und Kollusionsfälle in der Politik und unter Grosskonzernen schürten zusätzlich die Wut über die politische Klasse und die Wirtschaftselite.
Hinzu kommt der Faktor Umwelt, der immer mehr an Bedeutung gewinnt. Laut Lorena Donaire, Direktorin der Umweltorganisation Modatima, ist die Sorge um ein immer fragiler werdendes Ökosystem, und die damit verbundene Kritik an der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, ein herausstechendes Element der Aufstände.[2] Die Privatisierung des Bodens und des Wassers verwandelten Chiles Landwirtschaft in ein exportorientiertes Business, das von einem traditionellen bäuerlichen Leben nur noch einige nostalgische Anekdoten hinterliess.[3] Die Schuld an den in den letzten Jahren immer heftiger werdenden Waldbränden werden von der lokalen Bevölkerung nicht nur dem globalen Klimawandel zugeschrieben, sondern vor allem den grossen Konzernen, die in ihrer Funktion als Betreiber von Wasserkraftwerken oder riesigen Avocadoplantagen, den Tälern das Wasser rauben.
Nicht zuletzt resultiert der soziale Aufstand aus den jahrelangen Bemühungen und Kämpfen verschiedenster basis-orientierter Gruppen, erläutert Francisca Fernández, Anthropologin und Mitglied der Cordinadora Feminista 8 de Marzo: „Sozio-ökologische Bewegungen, indigene Völker wie die Mapuche, Studentenbewegungen oder feministische Gruppen präsentieren seit Jahren Alternativen zum neoliberalen System.“ Die sozialen Proteste erlaubten es, diese Alternativen und Forderungen an die breite Öffentlichkeit und auf die politische Agenda zu bringen. Diese sind ganz unterschiedlicher Natur: von der Forderung einer neuen Verfassung, über konkrete Fortschritte im Arbeitsrecht oder dem Einhalt der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, bis hin zur Ablehnung jeglicher staatlicher Instanz.
In diesem Sinne haben die Proteste keine einheitliche Botschaft, sie sind vielmehr Ausdruck einer tiefen Unzufriedenheit mit einem neoliberalen Gesellschaftssystem.
Steine gegen die Polizeirepression
Die Reaktion der Politik und insbesondere die heftige Polizeirepression resultierten als Brandbeschleuniger der Proteste. Die Härte der Staatsgewalt liess Erinnerungen an die Militärdiktatur Pinochets hochkommen. Insbesondere die kurzfristige Mobilisierung der Armee zur Unterstützung der Polizei in der Strasse und die Ausrufung einer Ausgangssperre Ende Oktober zeugen vom Willen, die Proteste mit allen Mitteln zu unterbinden. Die anhaltenden Vorwürfe verschiedener nationaler und internationaler Organisationen über Menschenrechtsverletzungen hallten bis in die Spitze der UNO wider. Ein tränendes Auge ist eines der Hauptsymbole der Proteste, eine Anlehnung an die mehr als 400 Menschen, die während der Demonstrationen Augenverletzungen erlitten, aufgrund der Gummigeschosse der „pacos“, wie die Polizei abfällig genannt wird. Über 20 Tausend Festnahmen, wovon noch immer 1600 Personen in Untersuchungshaft sitzen, mehr als zehntausend Verletzte, Foltervorwürfe, sexuelle Übergriffe und mittlerweile 29 Tote sind die traurige Bilanz der Repression.[4]
Die Protestierenden ihrerseits sind mittlerweile gut gewappnet, wie sich an einem anderen Freitag zeigt, an dem die Staatsgewalt mit über 1000 Polizisten die Proteste verhindern will. Die meisten Demonstrierenden sind vermummt oder mit Schutzmasken und -brillen ausgerüstet. Selbstgebastelte Schilder schützen vor Gummigeschossen und Wasserwerfern. Sanitätsteams kümmern sich um die Verletzten. Die Tränengasbomben werden in Wasserbehältern von gut ausgerüsteten Demonstranten neutralisiert, während andere das Trottoir aufbrechen, um Steine als Wurfgeschosse gegen die Polizeiwand zu liefern. Überall brennen Barrikaden und unzählige Laserstrahlen zünden auf die Frontscheiben der Wasserwerfer. Batucadas, wandernde Perkussionsgruppen, und Linsensuppe stärken die Moral der Protestierenden.
Die „Primera Línea“, die erste Linie, wie die zur Konfrontation bereiten Demonstrantinnen und Demonstranten genannt werden, sind die Zielscheibe für die Anfechtung der Proteste und werden in den konventionellen Medien und der Politik dementsprechend attackiert. Innerhalb der Protestbewegung geniesst die Primera Línea allerdings eine grosse Anerkennung, da sie die Demonstrationen überhaupt ermöglicht.
An Neujahr hielten sich an allen Zugängen zur Plaza Dignidad gewappnete Demonstranten bereit, wie ein Protestierender erzählt, der seit Oktober jeden Tag nach der Arbeit auf den Platz kommt. „Für den Fall, dass die Polizei angreift.“ Dies ermöglichte so zehntausenden Menschen Neujahr als Protestfest zu feiern, mit Kindern und Grosseltern, Konzerten und fahrbaren Essensständen, Feuerwerk und Tänzen. Fast wie ein ganz normales Neujahrsfest.
„Die Primera Línea spielt eine fundamentale Rolle innerhalb der Proteste“, sagt die Feministin Francisca Fernández. Sie legitimiere die Gewalt als manchmal einzige mögliche Form des Widerstands und ermögliche dadurch gleichzeitig, dass viele andere ihren Protest auf die Strasse tragen können. Die direkte Aktion, die häufig mit einer Form der Gewalt einhergeht und die bisher hart kriminalisiert wurde, konnte so als ein politische Aktionsform legitimiert werden.
Vielfältigkeit der Proteste
Die Demonstrationen sind nur ein Gesicht der Protestbewegung. Eine der wichtigsten Errungenschaften der Proteste sind die „Asambleas Territoriales,“ lokale Versammlungen. Abseits der Öffentlichkeit beginnen sich die Leute in den Quartieren zu versammeln und zu organisieren. „Seit den Protesten kenne ich fast alle Nachbarn“, erzählt eine Bewohnerin eines Vororts von Santiago. An Quartierfesten und -versammlungen wird zur Solidarität aufgerufen und zur selbstverwalteten Organisation unter den Bewohnern des Quartiers. Es spielen solidarische Musikgruppen und Essen wird von den OrganisatorInnen verteilt. Neue spontane Organisationen wurden gegründet wie beispielsweise die Komitees zur Befreiung und Unterstützung der Gefangenen. Bereits existierende „Asambleas“ oder Organisationen erhielten starken Aufwind.
Die Botschaft, die diese Initativen ausstrahlen, tönt einfach: Selbstverwaltung. Den Alltag wieder in die eigenen Hände nehmen. So beispielweise in Ancud, im Süden Chiles, wo das öffentliche Kulturhaus kurzerhand besetzt und in einen Treffpunkt für die gesamte Bevölkerung der Inselstadt umgewandelt wurde. Seither finden dort täglich Workshops, Veranstaltungen und Sitzungen statt. Der Durst nach direkter sozialer Organisation ist fast fassbar zu spüren und geht meist als Impuls der jungen Generationen aus.
Die Besetzungen verschiedener Universitäten und Schulen sind dementsprechend mehr kämpferischer Natur. Nicht nur in der Küstenstadt Valparaiso, wo die Proteste besonders heftig sind, werden am Tag der Aufnahmeprüfungen an die Universitäten die Eingänge der Prüfungslokale blockiert. Im ganzen Land sabotieren protestierende Schüler die als ungerecht angesehenen Klausuren und üben gleichzeitig eine Kritik am gesamten Bildungssystem aus.
Der Angriff auf Banken und Supermärkte, die in verschiedenen Städten zerstört oder geplündert wurden, widerspiegelt den antikapitalistischen Ansatz der Proteste und hinterlässt ganze Einkaufsstrassen mit verbarrikadierten Schaufenstern. Sogar in den kleinsten Städten sind die Eingänge zu den Banken mittlerweile mit Stahlwänden geschützt. In Santiago wurden Hochhäuser niedergebrannt, die Grosskonzernen gehören. Etliche Polizeistationen wurden attackiert. Polizeiautos ohne Beulen und Einschlaglöchern sind kaum zu sehen. Unzählige Sprüche und Aufrufe zum Ungehorsam zieren die Wände der meisten grösseren Innenstädte.
Die Strasse bleibt ein zentraler Punkt der Protestbewegung: Velodemos, öffentliche Fussballspiele auf der Strasse, Performances oder das gemeinsame „tomar once“, eine Verpflegung um ca. 19 Uhr, gehen alle mit der Besetzung und Aneignung des öffentlichen Raums einher.
Für die Anthropologin Fernández ist genau diese Vielfältigkeit eine Stärke der Protestbewegung und nichts anderes als ein Spiegel der Chilenischen Bevölkerung. „Die Proteste haben uns ermöglicht, wahrzunehmen, dass wir vielfältig sind, und immer vielfältig waren!“
Was bleibt hängen?
Alle diese verschiedenen Protestformen haben mit der staatlichen Repression zu kämpfen. Von der Räumungsandrohung des Kulturhauses in Ancud, den ätzenden Substanzen, die in den Wasserwerfern in Santiago eingesetzt werden, bis zu den neuen Gesetzen, die die Protestierenden mit absurd hohen Strafen belegen. Ebenso alarmierend sind die neuerlichen zivilen Polizeitrupps, die auf offener Strasse vor allem junge in die Proteste involvierte Menschen kidnappen und inhaftieren.[5] Sie zeugen alle vom Willen der staatlichen Instanzen, die Proteste mit jeglichen Mitteln zum Schweigen zu bringen.
Die sozialen Veränderungen, die mit den Protesten eingeläutet wurden, sind jedoch nicht zu übersehen. Die lokalen „Asambleas,“ die direkten Aktionen, das Streben hin zur Selbstverwaltung, die Ablehnung jeglicher partei-politischer Repräsentation, dies alles sind Initiativen, die sich an anarchistischen Prinzipien orientieren, obwohl sich nur ein gewisser Teil der Protestierenden als solche identifiziert. Sie zeugen jedoch alle vom Willen der Bevölkerung, ihre Schicksale und ihren Alltag wieder in die eigenen Hände zu nehmen.
Der Gang durch die Innenstadt Santiagos am Morgen nach einer Demonstration gleicht einer apokalyptischen Vision. Zerstörte Bus- und Metrostationen, abgebrannte Häuser, vom Feuer aufgeplatzter Asphalt, überall Steine und Glassplitter, heruntergerissene Ampeln. Das Szenario öffnet aber gleichzeitig Raum für neue Möglichkeiten. Wohltuende Merkmale fallen einem auf: keine einzige Werbetafel, farbige, bemalte Wände, mehr Freiheit für die Fussgänger. Die Menschen beginnen sich wieder wahrzunehmen und die Solidarität scheint ein fassbares Prinzip zu werden, nicht nur an den Demonstrationen, sondern auch in den Quartieren, zwischen den Nachbarn. Und eines ist nicht zu übersehen: der an vielen Wänden sichtbare und aus vielen Mündern hörbare Ausruf: Chile despertó! Chile ist aufgewacht.
[1] Alberto Larraín: El retorno del dolor, in: The Clinic (2019), Nr. 828, S.13
[2] Lorena Donaire: Crisis medioambiental por Modatima. Ante el modelo de despojo, no nos queda más que resistir, in: The Clinic (2019), Nr. 828, S.18
[3] José Bengoa: La „modernización“ de los campos de Chile. La vía chilena al capitalismo agraria, in: Reforma Agraria; Le monde diplomatique; Aún creemos en los sueños. 2017
[4] Die Zahlen stammen aus einem Bericht der Comisión Interamericana de Derechos Humanos (CIDH), der Ende Januar anlässlich einer Untersuchung der Geschehnisse veröffentlicht wurde. CIDH: “CIDH culmina visita in loco a Chile y presenta sus observaciones y recomendaciones preliminares”, unter: http://www.oas.org/es/cidh/prensa/comunicados/2020/018.asp (aufgerufen am 4.2.2020)
[5] Dziga: “Secuestro y Secuestradores”, unter: https://prensaopal.cl/author/giancoraglianti/ (aufgerufen am 6.2.2020)
Gregor Kaufeisen ist Sozialanthropologe aus Biel. Unterwegs mit seiner Band „Hermanos Perdidos“ traf er auf die Proteste in Chile und nahm aus eigener Initiative während zwei Monaten in verschiedenen Städten daran teil.
Fotos: Gregor Kaufeisen
Foto oben: Menschenmasse auf dem Weg zur Plaza Dignidad an einem Freitag.