Bieler Perlen

Am Anfang war die Wasserkraft

Die Wasserkraft zog Gewerbe und Industrie an den Flusslauf. Um diese Kraft  wurde erbittert gekämpft. Entlang der Schüss wuchs eine Reihe von Industrie-Arealen mit zahlreichen Arbeitsplätzen. Die Deindustrialisierung verwandelte die Areale schliesslich in Industrie-Brachen. Der Boden mitten in der Stadt erfuhr eine ungeheure Wertsteigerung. Jetzt soll er als Wohnquartier weiterhin Rendite bringen. Wird dies langfristig gut gehen? – Der Autor dieses Beitrags führt diesen Samstag 22. Juni Interessierte entlang der Schüss durch 400 Jahre Wirtschaftsgeschichte (siehe Infobox am Ende des Beitrags)

Schon im Mittelalter trieben Wasserräder an der Schüss Getreidemühlen an. Zudem liessen sich Schmiede und Glashütten an ihrem Lauf durch das St. Immer-Tal nieder, um ihre Gebläse zu betreiben. Andere Betriebe stampften, zerrieben oder pressten mit Hilfe der Wasserkraft. Ein Flusslauf war einst für Gewerbe und Industrie eine Standortbedingung.

Die Buchstaben auf der Skizze markieren Standorte der Wasserkraft-Nutzung in Biel. Es entwickelten sich an diesen Orten teils respektable Industrieanlagen, welche das Stadtbild und die Verkehrsverhältnisse prägten.

Als mit der Elektrifizierung anfangs des 20. Jahrhunderts die Standortbindung an ein Fliessgewässer wegfiel, blieben die Betriebe dort, solange sie Platz hatten. Einige zogen an den Stadtrand oder in die Umgebung. Dann aber entstanden mit der Deindustrialisierung Ende des letzten Jahrhunderts grössere Industriebrachen. Diese werden nun als Wohnquartiere für die Mittelschicht überbaut (siehe auch Kommentar). Das Stadtbild verändert sich erneut.

Jeder Standort hat seine eigene Entwicklungsgeschichte. Es gibt viel zu erzählen, wie folgende Beispiele zeigen:

Drahtwerk-Areal Bözingen (Standort A)

Für die Mühle am Ausgang des Taubenlochs bewilligte im Jahr 1634 der Fürstbischof den Ausbau zu einem Drahtzug. Am Ausgang der Schlucht hatte die Schüss genügend Kraft für den Antrieb der Ziehbänke, auf denen glühend heiss gemachte Eisenstangen mit Zangen durch immer engere Matrizenlöcher gezogen und so gestreckt wurden. 

Drahtprodukte waren zu jener Zeit gefragt, denn es tobte der 30-jährige Krieg. Die Heere brauchten Zaumzeug und Draht für Harnische. Lukrative Rüstungsproduktion!

Im Werk Bözingen wurde die Produktion von Nägeln, Schrauben und Federn im 19. Jahrhundert automatisiert. Der Energiebedarf stieg an, an die Stelle der Wasserräder traten effizientere Turbinen. In mehreren Etappen konnte das genutzte Gefälle und somit die Leistung gesteigert werden. Am Ausgang der Schlucht entstand ein gedrängter Industriekomplex mit einer meterspurigen Verbindungsbahn zum Bahnhof Mett. Heute: Die Fabrik ist verschwunden, die Wasserkraft wird weiterhin genutzt, die Bielersee Kraftwerke AG speist vom Ausgang der Taubenlochschlucht erneuerbare Energie ins Stromnetz. Der frei gewordene Raum soll künftig mit Wohnungen und mit einem Hotel überbaut werden, dort wo momentan 55 Meter hohe Profile aufragen.

Doch gehen wir weiter der Schüss entlang.

Streit um die Wasserkraft (Standorte D, E und F)

Die kürzlich neu gestaltete Mühle-Insel – heute Schüssinsel genannt – ist nicht natürlich entstanden, sondern ein technisches Werk aus dem Mittelalter. Am rechten Ufer stand nämlich eine Mühle, die dem Fürstbischof von Basel gehörte. Ihr Mühlrad drehte sich in einem Kanal, der Schüsswasser ableitete und unterhalb wieder in den Fluss mündete. Die Mühle war einträglich, weil sie auch Kundschaft aus dem Bernischen auf der linken Seite des Schüss bediente.

Doch es drohte Konkurrenz: Johannes Frisching, der 1630 ernannte Landvogt zu Nidau wollte für seine Untertanen eine eigene Mühle bauen am linken Ufer. Der Fürstbischof wollte dies verhindern. Er behauptete, die Grenze des Fürstbistums mit Bern verlaufe am linken Ufer und eine Wasserableitung ohne seine Bewilligung komme nicht in Frage. Die Berner jedoch waren der Meinung, die Herrschaftsgrenze sei die Flussmitte, eine Ableitung auf die bernische Seite sei ebenso statthaft wie auf die bischöfliche Seite. Man konnte sich nicht einigen. Schliesslich begann Frisching einfach zu bauen. Der Fürstbischof konnte das bernische fait-accompli nicht militärisch parieren, denn schwedische Truppen waren in den nördlichen Teil seines Landes eingefallen.

Der ungeklärte Grenzverlauf führte etwa 40 Jahre später zu neuem Streit. Die Mühle auf bernischer Seite war schon abgenutzt, der Nidauer Landvogt plante eine Renovation mit Erweiterung. Wieder intervenierte der Basler Fürstbischof mit diplomatischen Schritten, wieder keine Einigung. Der Berner griff zu einem Druckmittel, indem er die Mehleinfuhr verbot. Als der bischöfliche Lehensmüller doch noch etwas Mehl nach Mett liefern wollte, liess der Landvogt dessen Pferd beschlagnahmen und grosse Steine in die Schüss legen, die den Zufluss zur alten Mühle hemmten. Als Gegen-Repressalie erliess der Fürstbischof ein Holzausfuhrverbot. Ein kleiner Wirtschaftskrieg.

Selbst nach 1815, als die Schüss kein Grenzfluss mehr war, kam es zu Kämpfen um die Wasserkraft. 

Im Jahr 1897 liess der Betreiber der alten Baslermühle (Standort E) – jetzt Wildermeth-Mühle genannt –  das Wasserrad durch eine Turbine ersetzen. Diese kam nicht auf die berechnete Leistung. Der Grund war ein Rückstau vom unterliegenden Wehr der Omega-Fabrik, das fast einen Meter höher gemacht wurde als in der Konzession bewilligt. Der Regierungsstatthalter verlangte einen Rückbau auf die ursprüngliche Höhe. Dagegen wehrte sich die Omega, sie habe die Installation von der vormaligen Spinnerei so übernommen und machte Gewohnheitsrecht geltend. Der Streit dauerte zwei Jahre. Das Obergericht entschied schliesslich gegen die Omega.

Das Ende der Mühlen

Das 20. Jahrhundert brachte eine Marktbereinigung. Es konnten sich nur grosse Betriebe mit Bahnanschluss behaupten. Die Wildermeth-Mühle brannte im Jahr 1959 ab und wurde nicht mehr aufgebaut. Das Ende der Schenk-Mühle (Standort D), genannt nach dem damaligen Besitzer kam 1980, ebenfalls nach einem Brand.

  • Die Bezeichnungen Mühle-Insel und Mühlestrasse erinnern noch an die früheren Gegebenheiten.
  • Das Mühlefeld Madretsch erinnert an eine Mühle an der Stelle, wo sich heute die Privatschule Edupark befindet.
  • Die Mühlebrücke vor der Bieler Altstadt verweist an eine frühere Mühle an diesem Standort. 

Vom Industrie-Areal zum Schüss-Park (Standort I, Neumarktstrasse)

An der Madretsch-Schüss kaufte im Jahr 1852 Constant Montadon eine Nagelschmiede, um dort einen Drahtzug einzurichten. Nach einem Brand wurde die Anlage 1860 neu aufgebaut. Als Ergänzung zur 30 PS-Turbine trieb eine Dampfmaschine die Transmissionswelle an. Die Drahtwerke Bözingen schluckten 1914 die Montadon-Konkurrenz und firmierten fortan als Vereinigte Drahtwerke. Im Werk an der Neumarktstrasse ging die Produktion 1991 zu Ende. Die leer stehenden Fabrikhallen dienten ein Zeit lang allerlei Zwischennutzungen. 

Schliesslich begann der Abbruch, denn das wertvolle Gelände mitten in der Stadt sollte einer neuen Nutzung als Wohnraum zugeführt werden. Metallverarbeitung rentiert nicht mehr, Mietzinsen sind einträglicher.

Ade Grundstückgewinnsteuer

Wenn ein Grundstück im Laufe der Zeit eine Wertsteigerung erfährt, wird diese bei einem Verkauf teilweise abgeschöpft zu Gunsten der Allgemeinheit. In diesem Fall hätte die öffentliche Hand einen Betrag in Millionenhöhe erhalten. Hätte …, denn

die AG Vereinigte Drahtwerke fusionierte mit der Immobilienfirma Espace Real Estate. Dank diesem juristischen Kniff gab es keinen Landverkauf und die Grundstückgewinnsteuer war hinfällig. So bringt die unverdiente Wertsteigerung des Bodens seinem Besitzer eine entsprechend höhere Bodenrente ein, ohne dass die Allgemeinheit daran partizipiert.

Wie die Beispiele zeigen, hat die Schüss mit der ökonomischen Nutzung ihrer Energie die Entwicklung Biels und damit das Stadtbild geprägt. Sie überdauert diese Wandlungen und bleibt so etwas wie die ökologische Seele der Stadt.

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Quellen:
Romy Bernhard; Les Usiniers de la Suze 1750 – 1950; Revue Intervalles no. 69/70
Schwab Fernand; 300 Jahre Drahtindustrie, Festschrift, 1934
Michel Hans A; die Grenzziehung zwischen Bern und dem Fürstbistum Basel, 1966

 

Der Schüss entlang …

Spaziergang durch 400 Jahre Bieler Wirtschaftsgeschichte

Leichte Wanderung von Bözingen zum Kreuzplatz mit Hans Rickenbacher, bei jedem Wetter.

Samstag, 22. Juni 2019, 9:30 – 12:00 Uhr

Treffpunkt: Schüssbrücke Bözingen, Bus-Haltestelle Taubenloch
Erkennungszeichen: Vision 2035

Anmeldung, Kostenbeitrag: Nicht nötig

Die Schüss

Schwankende Wasserführung

Sie fliesst meist als bescheidenes Rinnsal dahin. Die Schüss kann aber auch bedrohlich anschwellen. Wenn es im relativ kleinen Einzugsgebiet nördlich des Chasserals heftig regnet und gar noch Schnee schmilzt, dann tosen gewaltige Wassermassen durch das Taubenloch. Die Schwemmebene zu Füssen der Altstadt stand früher oft unter Wasser und war landwirtschaftlich kaum nutzbar.

Vormals Grenzfluss

Die Schüss war lange Zeit eine Staatsgrenze! Biel gehörte bis zum Einmarsch französischer Truppen im Jahr 1798 zum Fürstbistum Basel, die Gemeinden Mett und Madretsch waren bernisch und gehörten zur Eidgenossenschaft. Zwischen den beiden Staaten wurde im 18. Jahrhundert erfolglos um eine Entsumpfung der Schüssebene verhandelt.

Korrektionen

Abhilfe kam erst als Biel  im Jahr 1815 bernisch wurde. Mit der Korrektion von 1825 entstand ein Stichkanal, welcher Hochwasser direkt in den See leitet. Die Schleuse bei der Verzweigung in die Biel-Schüss und in die Madretsch-Schüss sorgt seither für eine gleichmässige Wassermenge in diesen gewerblich genutzten Seitenarmen. Aber das Werk musste um 1895 erweitert werden, weil es besonders im Jahr 1882 dennoch Überflutungen gab.

Ökologische Nachbesserungen

Zahlreiche Stauwehre verhinderten die Fischwanderung. Mit der Elektrifikation verschwanden die Turbinen allmählich und damit auch die Wehre. Erst am Ende des 20. Jahrhunderts baute man bei der Schleuse eine Fischtreppe.

Kommentar

Wohnungen statt Arbeitsplätze, wie lange noch?

Wohnungen für die Mittelschicht, das ist die Zauberformel der Investoren. Das Renfer-Areal (Standort C), die Mühle-Insel (D, E), das Drahtwerk-Areal (I), das Gaswerk- und SABAG-Areal, das Gassmann- (O) und das Schnyder-Areal (K) sind schon weitgehend in diesem Sinn umgestaltet, weitere sind in Planung. 

Wird es künftig noch mehr Gutverdienende geben, die sich eine teure Wohnung leisten können? Ja, wenn ein Wirtschaftswachstum im bisher erlebten Mass andauert. Dafür wird auf politischer Ebene ja wahrlich viel getan, aber: 

Es könnte sich bald erweisen, dass mit Steuersenkungen und anderen neoliberalen Rezepten ein stetiges Wirtschaftswachstum nicht zu erzwingen ist. 

Eine globale Rezession ist viel wahrscheinlicher als ein „weiter wie bisher“. Bei einem Rückgang des Wirtschaftswachstums würden die Einkommen allgemein sinken, die Zahl der Gutverdienenden würde  kleiner. Die teuren neuen Wohnungen stünden dann leer und die Immobilienbesitzer könnten die Last der Fehlinvestitionen nicht lange stemmen.

Vielleicht schlägt dann die Stunde des gemeinnützigen Wohnungsbaus. Der Bedarf an guter Wohnsubstanz wird bleiben, weil auch im Jahr 2035 Menschen ohne oder mit geringem Einkommen ein Dach über ihrem Kopf brauchen. Die Konkursmasse des profitorientierten Wohnungsbaus würde dann zur Basis von gemeinnützigen Wohngenossenschaften. Die Allgemeinheit käme somit verspätet doch noch zu ihrem gerechten Anteil am Ertrag aus Bodennutzung.

Hans Rickenbacher, geboren 1941, kam 1966 aus dem Baselbiet nach Biel. Erstberuf Elektromechaniker, Theologiestudium an einem freikirchlichen Seminar in Frankfurt, dipl. Sozialarbeiter HFS, 1982 – 1994 bernischer Grossrat. Seit der Pensionierung als Heimleiter befasst er sich vertieft mit gesellschaftspolitischen und regionalhistorischen Themen.

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