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Darf nicht bleiben – kann nicht gehen: der Briefwechsel dazu

Wieso gibt es überhaupt abgewiesene Asylsuchende, die nirgendwohin können und trotzdem keine (provisorische) Aufnahme erhalten? Dies fragen sich unsere engagierten Autoren Rudolf Albonico und Margrit Schöbi. Und sie haben Antworten bei Mario Gattiker gesucht, Staatssekretär des neuen Staatssekretariats für Migration. Im Folgenden der Briefwechsel. 

Im Asylgesetz steht doch:

„Ergibt die Prüfung, dass der Vollzug nicht zulässig, nicht zumutbar oder nicht möglich ist, ordnet das SEM stattdessen eine vorläufige Aufnahme für die betroffene Person an.“

und im „Handbuch Asyl und Rückkehr“ heisst es ausdrücklich:

„Die Folge der Unzulässigkeit, Unzumutbarkeit oder Unmöglichkeit des Vollzugs der Wegweisung ist die Verfügung einer vorläufigen Aufnahme.“

Wir schrieben im Februar dieses Jahres einen Brief an Staatssekretär Mario Gattiker. Er ist „der oberste Migrationsbeamte der Schweiz“:

„Warum gibt es abgewiesene tibetische Asylsuchende?

Seit wir verschiedene TibeterInnen kennen, die seit Jahren einen abschlägigen Asyl- entscheid haben und eigentlich längst in ihrem Land zurück sein müssten, hier auf Nothilfe angewiesen sind und nicht arbeiten dürfen, verstehen wir die Welt nicht mehr. Zudem sind wir auf folgende Aussage gestossen, die uns zusätzlich irritiert:

„Die Schweiz verfolgt mit ihrer Asylpolitik ein klares Ziel: Menschen, die auf Schutz angewiesen sind, sollen diesen Schutz in der Schweiz erhalten; Menschen, die nicht auf Schutz angewiesen sind, sollen die Schweiz rasch wieder verlassen….“

Es ist offensichtlich, dass Tibeter nicht zurückgeführt werden können, weder in den Tibet noch nach Nepal oder Indien. Wir erinnern an den Fall Yangdon Chorasherpa, eine Geschichte, welche uns sehr betroffen machte und wohl kein Highlight in der Schweizer Asylgeschichte darstellt.

Warum also erhalten nicht alle Tibeter (sowie Personen aus anderen Ländern, wohin keine Rückschaffung möglich ist) nicht mindestens eine provisorische Aufnahme?“

Unglaubhaft, angeblich, vermutungsweise, möglicherweise

Gattiker antwortete wie folgt:

„… Macht eine asylsuchende Person tibetischer Ethnie unglaubhafte Angaben über ihre angebliche Sozialisierung in der Volksrepublik (VR) China, ist vermutungsweise davon auszugehen, dass sie eine Aufenthaltsbewilligung oder eine Duldung in einem Drittstaat, möglicherweise sogar eine andere Staatsangehörigkeit besitzt. Die Asylbehörden prüfen deshalb den Vollzug der Wegweisung nicht in die VR China, sondern an den bisherigen Aufenthaltsort. Verunmöglicht die asylsuchende Person durch ihr Verhalten die Prüfung, über welche Staatsangehörigkeit respektive über welchen Aufenthaltsstatus sie in einem Drittstaat verfügt, ist vermutungsweise davon auszugehen, dass keine flüchtlings- oder wegweisungsbeachtlichen Gründe gegen eine Rückkehr an den bisherigen Aufenthaltsort bestehen. Das SEM lehnt das Asylgesuch ab und ordnet den Vollzug der Wegweisung an, jedoch unter Ausschluss des Vollzugs nach China.“ 

(Hervorhebungen durch uns). 

Auf Deutsch heisst das: Diese Tibeter sollen schauen, dass sie „zurück“ nach Nepal oder nach Indien verreisen. Beide Länder stellen aber keine Dokumente aus; meistens reagieren sie nicht einmal auf Anfragen. Quintessenz: Die abgewiesene Person kann irgendwo hin und in der Schweiz will man sie auch nicht. – So geht es übrigens nicht nur Personen aus Tibet. Viele EritreerInnen, Menschen aus Afghanistan und etlichen weitern Ländern sind in ähnlichen Situationen. Personen aus Afghanistan, beispielsweise, lebten oftmals als Secondos jahrelang im Iran, haben null Bezug zu Afghanistan, und in den Iran zurück können sie auch nicht, weil sie früher ohne Reisepapiere dort leben und arbeiten durften, jetzt aber nicht mehr. 

Kann es sein, dass ein sog. rechtsstaatliches Verfahren derart viel Unrecht produziert? 

Diese Antworten aus dem SEM führte bei uns zu neuen Fragen, die wir in einem zweiten Brief an Mario Gattiker übermittelten: 

„… In Ihrer Antwort erläutern Sie das Verfahren. Was fehlt, ist eine Stellungnahme zum Output des Verfahrens. Kann es sein, dass ein sog. rechtsstaatliches Verfahren derart viel Unrecht produziert? 

Kann es sein, dass ein sog. rechtsstaatliches Verfahren derart viele Dysfunktionalitäten erzeugt: Unbeschäftigte und von Berufslehre Ausgeschlossene bei gleichzeitigem Arbeitskräftemangel – Pflegebereich!; ergebnislose Asylbürokratie; hohe und andauernde Kosten usw. …“ 

Dysfunktionalitäten könnte man auf Deutsch mit Leerlauf übersetzen. Ein Beispiel: Es gibt junge Asylsuchende, welche – solange sie im Asylverfahren sind – eine Berufslehre machen und die Berufsschule besuchen können. Sobald sie aber den Entscheid „Abgewiesen“ erhalten, dürfen sie gar nichts mehr. Von einem Tag auf den andern müssen sie Lehrstelle und Berufsschule verlassen. 

Wir schrieben in diesem zweiten Brief dann noch folgendes: 

„Wir bitten Sie sehr, sich dafür einzusetzen, dass für die Abgewiesenen (nicht nur für die Tibeter*innen) bessere Lösungen gefunden werden. Vielleicht auch, indem man sie gar nicht erst „abweist“? 

Wir haben die Zeit der administrativ Versorgten noch miterlebt. Gegenwärtig müssen wir leider eine neue Variante von „administrativ Versorgten“ erleben. Dagegen weh- ren wir uns. Sie sind an einer absolut entscheidenden Position. Bitte nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr für eine Schweiz, in der Menschenrechte für alle gelten.“ 

Die Antwort auf diesen zweiten Brief, datiert vom 1. April 2019: 

„Ich verstehe Ihren Standpunkt und Ihren Unmut, kann Ihnen jedoch keinen besseren Bescheid geben. Das Staatssekretariat für Migration trägt die Verantwortung für die korrekte Durchführung des Asylverfahrens. Das Schweizer Asylverfahren beruht auf der Flüchtlingskonvention und dem Asylgesetz und verfolgt das Ziel, denjenigen Personen Schutz zu gewähren; die in ihrem Heimat- oder Herkunftsstaat ernsthafter, asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt sind. Die Asylsuchenden unterliegen einer Mitwirkungspflicht und müssen ihre Identität offenlegen. Kommen sie dieser Pflicht nicht nach, verunmöglichen sie dem SEM die Abklärung ihrer Schutzbedürftigkeit. In solchen Fällen wird praxisgemäss vermutet, dass keine Gründe gegen eine Rückkehr an den bisherigen Aufenthaltsort bestehen (vgl. das Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts E-2981/2012 vom 20. Mai 2014). 

Es steht weggewiesenen Asylsuchenden – namentlich auch Personen tibetischer Ethnie – jederzeit frei, ihre Identität nachträglich offenzulegen. Unter dieser Voraussetzung wäre es den Asylbehörden möglich, den effektiven Schutzbedarf zu prüfen. 

Asylsuchenden kann im Übrigen eine Aufenthaltsbewilligung erteilt werden, wenn sie sich mindestens seit fünf Jahren in der Schweiz aufhalten, der Aufenthaltsort den Behörden immer bekannt war und wegen der fortgeschrittenen Integration ein schwerwiegender persönlicher Härtefall vorliegt (Art. 14 Abs. 2 Asylgesetz). Für die Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen sind grundsätzlich die kantonalen Behörden zuständig. 

Abschliessend versichere ich Ihnen, dass ich mich auch in Zukunft dafür einsetzen werde, dass Personen, die an Leib und Leben bedroht sind, in der Schweiz Schutz erhalten. Zu einer glaubwürdigen und humanitären Asylpolitik gehört jedoch auch, dass Personen, die den Schutz unseres Landes nicht benötigen, die Schweiz wieder verlassen müssen.“ 

Am 22. April 2019 sandten wir einen dritten Brief an Herrn Gattiker, mit folgendem Inhalt: 

„Wir vermissen Ihre Antworten auf die von uns aufgeführten Fragen, nämlich: 

„In Ihrer Antwort erläutern Sie das Verfahren. Was fehlt, ist eine Stellungnahme zum Output des Verfahrens. 

Kann es sein, dass ein sog. rechtsstaatliches Verfahren derart viel Unrecht produziert10

Kann es sein, dass ein sog. rechtsstaatliches Verfahren derart viele Dysfunktio- nalitäten erzeugt: Unbeschäftigte und von Berufslehre Ausgeschlossene bei gleichzeitigem Arbeitskräftemangel – Pflegebereich! – ergebnislose Asylbürokratie; hohe und andauernde Kosten usw.“ 

Für die Beantwortung dieser und der folgenden Fragen wären wir Ihnen dankbar. 

So wissen wir beispielsweise immer noch nicht, was eine (abgewiesene) tibetische Person tun soll, nachdem sie sich, mit Angaben zu ihrer Person, an die indische oder die nepalesische Botschaft gewandt hat11 – erfolglos. Oder wie eine tibetische Person die chinesische Botschaft kontaktieren soll, ohne ihre Angehörigen in der VR China an Leib und Leben zu gefährden.“ 

Statt Herrn Gattiker antwortete mit Datum vom 10. Mai und Ankunft am 16. Mai 2019 Frau Esther Maurer, Vizedirektorin des SEM: 

Sie zeigen sich besorgt, dass das Asylverfahren Dysfunktionalitäten produziere. Namentlich führe es zu unbeschäftigten und von der Berufslehre ausgeschlossenen Personen. Ich teile Ihr Anliegen, dass solche Folgen des Asylverfahrens im Rahmen des gesetzlichen Rahmens wenn immer möglich zu vermeiden sind. Wenn allerdings Personen durch wahrheitswidrige Angaben die Prüfung ihrer Asylgründe verunmöglichen, haben diese ihren Status in der Nothilfe selbst zu verantworten. Es handelt sich somit um ein rechtsstaatlich korrektes Vorgehen, welches – entgegen Ihrer Darstellung – keinerlei „Unrecht“ produziert. Wie Ihnen Herr Staatssekretär Gattiker bereits in seinem Schreiben vom 1. April 2019 dargelegt hat, ist der Zweck des Asylverfahrens, schutzbedürftige Personen zu schützen. Die Förderung der Integration abgewiesener Personen ist nicht Aufgabe des Asylverfahrens und würde den Zielsetzungen der Schweizer Migrations- und Asylpolitik widersprechen. 

Ihre Frage, welche Handlungsoptionen abgewiesenen asylsuchenden Personen tibetischer Ethnie offenstehen, erachte ich damit als beantwortet. Die asylsuchende Person ist nämlich verpflichtet, ihrer Mitwirkungspflicht nachzukommen und ihre Identität offen zu legen. Sollte sie ihre tatsächliche Identität, respektive Herkunft nachträglich glaubhaft machen, können die Asylbehörden im Rahmen eines ausserordentlichen Verfahrens prüfen, ob sie schutzbedürftig ist oder aber in einen Drittstaat oder ihren Heimatstaat zurückkehren kann. … 

Ich weise gerne nochmals auf das Koordinationsurteil E-2981/2012 des Bundesverwaltungsgerichtes vom 20. Mai 2014 hin, aus welchem Sie sämtliche Details zur Rechtsprechung betreffend Personen tibetischer Ethnie entnehmen können. 

Ich hoffe, damit Ihre Fragen beantwortet zu haben, und bitte Sie um Verständnis, dass das SEM es sich vorbehält, auf weitere Schreiben in gleicher Angelegenheit nicht mehr einzugehen. …“ 

Was immer die betroffene Person macht oder unterlässt – es ist falsch 

Herr Gattiker schreibt (s.o.): 

„Die Asylsuchenden unterliegen einer Mitwirkungspflicht und müssen ihre Identität offenlegen. Kommen sie dieser Pflicht nicht nach, verunmöglichen sie dem SEM die Abklärung ihrer Schutzbedürftigkeit. …“ 

Was genau soll die betreffende Person tun?

Variante A: Sie kann effektiv ein Dokument aus Tibet (VR China) beschaffen. Was meint der Berner Migrationsdienst in diesem Fall: 

„Der Migrationsdienst kann aufgrund des hauptsächlich geltend gemachten in Tibet beschafften Beweismittels „………..“ (Bezeichnung des entsprechenden Dokuments) beim SEM keinen Antrag auf vorläufige Aufnahme wegen Unmöglichkeit (der Rückkehr oder Ausschaffung) stellen. Dies ist aus dem nachfolgenden Grund rechtlich nicht möglich. … Jegliche Dokumente zwecks Belegung der Identität, die Sie aus China beibringen, müssen beim SEM im Rahmen eines Wiedererwägungsgesuchs eingereicht werden, denn mit einem solchen Dokument wollen Sie nachträglich beweisen, dass Sie entgegen der Auffassung der Bundesbehörden, in China gelebt haben, und wie Sie geschildert haben, aus Tibet ausgereist seien.“ 

Also müsste die betreffende Person ein Wiedererwägungsgesuch stellen. Wenn sie aber ihre chinesische Identität beweisen will, muss sie Papiere in oder von China beschaffen. Damit gefährdet sie ihre in Tibet lebenden Angehörigen… 

Variante B: Die betreffende Person akzeptiert, dass das SEM glaubt, sie komme von Nepal oder Indien. 

Die Antwort des MiDi dazu: 

„Soweit Sie vorgebracht haben, die nepalesischen Behörden und indischen Behörden angeschrieben zu haben und es sich um die Schreiben handelt, die Sie im Rahmen des Härtefallgesuchs beim Migrationsdienst eingereicht haben, sind sie unzureichend. Es ist offenkundig, dass nepalesische und indische Behörden keine Aufenthaltsbewilligungen ausstellen, wenn nicht die erforderlichen Dokumente vorgelegt werden (vgl. dazu auch Ziffer 3 Punkt 8 „Papierbeschaffung“ des Gesprächsprotokolls vom (Datum).“ 

Zwischenbemerkung 1: Im Originalbrief ist das „Sie“ öfters klein geschrieben, womit die Verständlichkeit des Briefes zusätzlich erschwert ist. 

Zwischenbemerkung 2: Wenn die betreffende Person ihre Identität offenlegt gegen- über den nepalesischen Behörden, ist es möglich, dass sie ihre Angehörigen in Tibet gefährdet, denn Nepal ist nicht „dicht“ gegenüber China. Und eine „Rückkehr“ nach Nepal wäre ohnehin extrem gefährlich, wie der Fall Yangdon Chorasherpa13 zeigt.

Schauen wir also nach, was im erwähnten „Gesprächsprotokoll“ steht: 

„Offenlegung der Identität und die Kooperationsbereitschaft in Bezug auf die Papierbeschaffung: 

Sie haben bei den Bundesbehörden angegeben, China mit (x) Jahren verlassen zu haben. Sie wurden aufgefordert, Reisepapiere oder Identitätspapiere vorzulegen. Bis zum heutigen Zeitpunkt haben sie keine vorgelegt. Die Herkunftsanalyse ergab, dass Sie nicht im geltend gemachten geographischen Raum aufgewachsen sind und dass Sie nur unzureichend Chinesisch verstehen. Die illegale Ausreise aus dem Land kann nicht geglaubt werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat weiter die Schlussfolge- rung gezogen, dass Sie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in einer exiltibetischen Diaspora gelebt haben. Solche gibt es in Indien und Nepal. Somit liegen unglaubhafte Angaben über Ihre Identität vor. 

Eine Wegweisung nach China wird bei Personen tibetischer Ethnie, die mit überwie- gender Wahrscheinlichkeit in einem Drittstaat (Nepal oder Indien) aufgewachsen sind, nicht angeordnet (BVGE 2014/12 E.5.11). 

Gemäss BVGE-Praxis bestehen bei Personen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in China sozialisiert worden sind folgende mögliche Konstellationen bezüglich der Staatsangehörigkeit: 

a) Besitz der chinesischen Staatsangehörigkeit ohne Aufenthaltsbewilligung in Nepal 

oder Indien (blosse Duldung im betreffenden Drittstaat); 

b) Besitz der chinesischen Staatsangehörigkeit mit entsprechender Aufenthaltsbewilligung im Drittstaat Nepal oder Indien; 

c) Besitz der Staatsangehörigkeit von Nepal oder Indien (und damit einhergehendem Verlust der chinesischen Staatsangehörigkeit). 

Nun folgt der erwähnte Punkt 8: 

Papierbeschaffung entweder bei chinesischen oder nepalesischen bzw. indischen Behörden ist zumutbar bzw. ist Sache der Gesuchsteller: Sind keine Identitätsausweise vorhanden oder sind die Herkunft sowie die Asylvorbringen nicht glaubhaft gemacht worden, kann das SEM die asylsuchende Person nicht als Flüchtling anerkennen. 

Vertretungen von Indien und Nepal können nur Aufenthaltsbewilligungen ausstellen, wenn die Personen im Land registriert worden sind oder entsprechende konkrete Hinweise vorhanden sind. Geeignete Unterlagen hierzu sind: z.B. Identity Certificate, Schulbescheinigung, Wohnsitzbescheinigung oder Aufenthaltstitel. 

Folgende Dokumente sind für das Tibet-Büro in Neu-Dehli erforderlich: Registration Certificate RC oder Identity Certificate IC. 

Folgende Dokumente sind für nepalesische Behörden erforderlich: Refugee Card oder Refugee Identity Card.“ 

Das Gespräch geht dann jeweils etwa so weiter: 

„F: Haben Sie dazu Fragen oder Bemerkungen? 

A: Da ich nie dort gelebt habe, kann ich auch kein Dokument besorgen. Ich war nur 6 Monate illegal dort, bevor ich in die Schweiz eingereist bin. 

F: Sie wurden bereits mehrfach aufgefordert, Ihre Identität zu belegen und Identitäts- oder Reisedokumente zu beschaffen. Was haben Sie diesbezüglich unternommen, resp. was planen Sie? Können Sie diese Aktivitäten belegen? 

A: Ich habe keine Reisepapiere besorgen können. Ich würde die Familie im Tibet gefährden. Hätte ich ein Papier, wäre ich schon lange in einem anderen Land.“ 

Das heisst: Die Person muss also diejenigen Dokumente vorlegen, die sie nicht hat, aber beschaffen möchte… 

Das sieht auch eine Einstellungsverfügung aus einem anderen Schweizer Kanton so: 

„Weitere Abklärungen beim Migrationsamt des Kantons …. ergaben, dass auch eine Rückführung nach Nepal oder Indien, von woher der Beschuldigte höchstwahrscheinlich stamme, ausgeschlossen sei, weil der Beschuldigte über keine gültigen Reisepapiere verfüge und diese Länder nicht bereit seien, gültige Pässe für (Exil-) Tibeter auszustellen. Da der Beschuldigte somit auch von den Vertretungen von Indien und Nepal die erforderlichen Reisedokumente nicht erhältlich machen kann, ist es ihm objektiv nicht möglich, freiwillig in sein Herkunftsland zurückzukehren. Damit könne der Beschuldigte, selbst wenn er sich darum bemühen würde, nichts zur Verbesserung seiner Situation beitragen. …“15 

Zusammenfassend: „Darf nicht bleiben – kann nicht gehen“

Die abgewiesene Person kann keine Papiere beschaffen, weder aus China noch aus Nepal oder Indien. Sie hat es zwar versucht, erfolglos. Das SEM beurteilt das als mangelnde Mitwirkung. Womit weder eine erneute Prüfung des Asylgesuchs noch ein Härtefall-Gesuch möglich seien. Die Person bleibt „abgewiesen“. 

Die Folgen:
Die betreffende Person muss die Schweiz verlassen. Sie kann aber nirgendwo hin. Deshalb kann der zuständige Kanton sie nicht ausschaffen. 

Der zuständige Kanton kann aber ausländerrechtliche Zwangsmassnahmen anordnen. Diese Massnahmen umfassen einen ganzen Katalog von Zwangsinstrumenten: Festhaltung, Ein- und Ausgrenzung, Administrativhaften. Vorbereitungs-, Ausschaffungs- und Durchsetzungshaft wird von den kantonalen Migrationsbehörden angeordnet und muss innerhalb von 96 Stunden richterlich überprüft werden. Die maximale Dauer aller Administrativhaften zusammen beträgt für erwachsene Personen 18 Monate. Auch Minderjährige ab 15 Jahren dürfen laut Artikel 80 Absatz 4 des geltenden eidgenössischen Ausländergesetzes (AuG ) in spezifischen Fällen in Administrativhaft genommen werden.

Hinzu kommt, dass Personen ohne Aufenthaltsberechtigung immer wieder wegen illegalen Aufenthalts bestraft werden können. Der illegale Aufenthalt gilt als sogenanntes Dauerdelikt, das heisst, dass das Delikt mit der Verwirklichung des Tatbestandes nicht abge- schlossen ist. Vielmehr wird der rechtswidrige Zustand durch den „fortdauernden Willen des Täters“ aufrechterhalten und erneuert sich fortlaufend. Betroffene können also aufgrund dieses Tatbestandes jederzeit erneut verurteilt und ggf. in Haft genommen werden. Die maximale Haftdauer für eine Verurteilung wegen illegalen Aufenthalts beträgt ein Jahr. 

Auch die Bedingungen in der Nothilfe erhöhen den Druck auf abgewiesene Asylsuchende: Je nach Kanton werden Nothilfebeziehende sehr abgelegen untergebracht oder die Unterbringung erfolgt in Zentren ohne Tageslicht. Zu den Regelungen in Unterkünften für Nothilfebeziehende kann auch gehören, dass diese tagsüber ihre Zimmer verlassen müssen, tägliche Präsenzkontrollen durchgeführt werden, sie ihre Mahlzeiten nicht selber zubereiten können oder der Zugang für Freund*innen und Begleitende zu den Zentren reglementiert wird. Sie erhalten Fr. 8.50 pro Tag oder nur Sachleistungen. Schulpflichtige Kinder von Abgewiesenen gehen intern zur Schule. 

Allgemein gilt für abgewiesene Asylsuchende, dass sie keiner Arbeit nachgehen dürfen, keine Berufslehre machen können und dass ihnen keine Sprachkurse finanziert werden. 

Völlig offen ist, was mit den weggewiesenen hierbleibenden Personen und ihren Kindern geschehen soll – morgen, übermorgen, in einem Jahr, in zehn Jahren… 

Illustration: Lise Wandfluh

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