Wir leben in Zeiten des Immer-mehr. Immer mehr Menschen fordern darum weniger. Doch dieses Weniger hat seine Tücken. Es stellen sich Fragen: Weniger wovon? Und wessen Meer? Ein Essay.
Wir kennen die Form des Immer-Mehr bis zum Abwinken: Wachstumskurve über Wachstumskurve, nur die Einheiten variieren: Bruttoinlandprodukt, Rohstoffgewinnung, Energieverbrauch, Personenkilometer, Düngemitteleinsatz etc. Und gleichzeitig steigt die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre, die Versauerung der Ozeane, der Biodiversitätsverlust, die Abfallmenge. Seit den 1950er-Jahren krümmen sich viele dieser Kurven steil und steiler nach oben. Die Forschenden um den Berner Umwelthistoriker Christian Pfister nannten das vor über 25 Jahren ein «1950er-Syndrom». In jüngerer Zeit wird auch von einer «Grossen Beschleunigung» (great accelleration) gesprochen. Erdwissenschaftler sehen in der Mitte des 20. Jahrhunderts den Beginn einer neuen Epoche, des Anthropozäns – der Mensch, so ihre Erkenntnis, ist zu einer geologischen Kraft geworden. Das Immer-Mehr verändert unseren Planeten in seinen Grundfesten.
Zur Illustration: Eine Gruppe von Forschern um den Geologen Jan Zalasiewicz hat vor einigen Jahren die Masse der «Technosphäre» berechnet. Sie meinen damit das Gewicht aller Städte, Dörfer, Weiden, Äcker, Strassen, Eisenbahnen, Staudämme und anderer Materialien, «in denen menschliche Bestandteile zu erkennen sind» (Scale and diversity of the physical technosphere: A geological perspective, 2017, S. 3). Die errechnete Zahl liegt jenseits vertrauter Massstäbe und ist darum wenig aussagekräftig. Verteilt man jedoch diese Technosphäre auf die gesamte irdische Landfläche, so kommt auf jeden Quadratmeter eine Masse von 50 kg zu stehen. Pro Mensch sind es im Schnitt rund 4000 Tonnen. Das ist natürlich irreführend, denn der «durchschnittliche Mensch» ist eine seltene Spezies – viel häufiger sind die Über- und die Unterdurchschnittlichen. Betrachten wir den «ökologischen Fussabdruck», ein anderes Mass für die Umweltbelastung, so unterscheiden sich die Schweiz und Eritrea beispielsweise um den Faktor 10.
Nicht noch mehr
Das Ausmass der Belastung der Erde und die Geschwindigkeit der Veränderungen erschrecken. Und tatsächlich ist eine junge Generation heute immer weniger bereit, sich abspeisen zu lassen mit immer neuen Varianten der letztlich doch immer gleichen Versprechen: Die Technologie wird uns retten, der Markt wird es richten, der Einzelne muss Verantwortung übernehmen… Die Empörung war selten so klar und so laut. Dennoch hat es in den letzten 50 Jahren keineswegs an Warnungen gefehlt, und man könnte den Kampf gegen die Umweltzerstörungen problemlos bis zum Anfang der Industrialisierung zurückverfolgen. Doch bleiben wir bei den 1970er-Jahren. Sie prägen das ökologische Denken bis heute.
1970 schrieb der später als Vertreter des «Postmodernismus» bekannt gewordene und 2007 verstorbene Theoretiker Jean Baudrillard in seinem Frühwerk «Die Konsumgesellschaft»:
«Um uns herum herrscht heute eine gleichsam fantastische Selbstverständlichkeit des Konsums und des Überflusses; sie wird durch die Vervielfältigung der Dinge, Dienstleistungen und materiellen Güter hervorgerufen, und sie bewirkt eine fundamentale Mutation in der Umwelt der menschlichen Gattung. Die Menschen des Überflusses sind genau genommen weniger von anderen Menschen umgeben, so wie sie es seit jeher waren, als vielmehr von Objekten. […] Die Begriffe ‚Umwelt‘ und ‚Ambiente‘ sind wohl erst so sehr in Mode gekommen, seit wir im Grunde anderen Menschen weniger nahe sind, weniger mit ihrer Präsenz und ihrer Ansprache leben als unter dem stummen Blick gefügiger, halluzinatorischer Dinge […].» (S. 39).
Verführung der Dinge
Baudrillard verknüpft an dieser Stelle zwei Fäden: 1) Der Produktivismus hat zu Überfluss und Umweltzerstörung geführt. 2) Die Gier nach Dingen und Objekten hält diese Überflussproduktion in Gang. Dazu erzählt Baudrillard eine Geschichte von «melanesischen Eingeborenen», die «entzückt» den Flugzeugen zuschauen, die unerreichbar über ihren Köpfen am Himmel dahinziehen:
«Nie aber kamen diese Objekte zu ihnen hinunter. Die Weißen dagegen schafften es, sie zu kapern. Und dies, weil sie auf bestimmten Flächen am Boden über ähnliche Objekte verfügten, von denen die Maschinen in ihrem Flug angezogen wurden. Woraufhin die Eingeborenen sich daran machten, mit Ästen und Schlingpflanzen das Simulakrum eines Flugzeugs zu bauen und ein Terrain abzugrenzen, das sie nachts gewissenhaft beleuchteten, um dann geduldig darauf zu warten, dass die wirklichen Flugzeuge dort landen.» (S. 47)
Objekte ziehen die Menschen in ihren Bann. Wie die «Eingeborenen», fährt Baudrillard fort, warteten die Mitglieder der Konsumgesellschaft auf die Landung des Glücks. Ein «magisches Denken» sei es, das den Konsum beherrsche, «eine wundergläubige Mentalität».
Die verteufelten Dinge, Objekte, materiellen Gegenstände sind natürlich keine Erfindung der Umweltbewegung. Wahlweise musste die irdische Dingwelt als Feindbild hinhalten für die religiöse Tugend, als imperfektes Abbild der gestaltenden Idee, als kalte Schulter einer warmen Menschlichkeit. Die vom Sozialwissenschaftler Ronald Inglehart 1977 propagierte Unterscheidung zwischen «materiellen» und «postmateriellen Werten» setzt diese Serie von Gegensätzen fort – wie gehabt auf Kosten der Dinge. Ingelhart hatte unseren postindustriellen Gesellschaften eine «stille (Werte)Revolution» prognostiziert. «Immaterielle Werte» wie Schönheit, Idealismus, Meinungsfreiheit, Persönlichkeitsentwicklung und Mitsprache drängten in den Vordergrund, die «materiellen Werte» wie Sicherheit, Ordnung, und ökonomisches Auskommen rückten nach hinten.
Täuschende Dematerialisierung
Die Abkehr der Wirtschaft von den Dingen heisst Dematerialisierung. Diese entpuppt sich in mindestens drei Fällen jedoch als Täuschung. Erstens dann, wenn man vorgibt, «reale» Dinge nur noch «virtuell» zu tun. Wobei die «virtuellen» Bildschirme, Server, Datenleitungen etc. eigentlich genau so «real» sind wie die «realen» Zeitungen, Druckerpressen und Zeitungsjungen. Zweitens entpuppt sich die Dematerialisierung als Täuschung, wenn industrielle Produktion einfach ausgelagert wird in andere Länder («aus den Augen, aus dem Sinn»). Der dritte Fall einer Täuschung liegt vor, wenn der Konsum von «immateriellen» Dienstleistungen und Erlebnissen seinerseits massiv Ressourcen verschlingt. Der Soziologe Gerhard Schulze hatte 1992 diagnostiziert, dass wir uns immer mehr in Richtung einer «Erlebnisgesellschaft» entwickeln würden. Anstelle von Statusgütern wie Autos und Swimmingpools gewännen nach dieser Theorie intensive und sozial geteilte Erlebnisse immer mehr an Bedeutung. Und tatsächlich spricht einiges dafür, dass wir mittlerweile einen «peak stuff» erreicht haben. Doch die nachgefragten exklusiven «Erlebnisse» beanspruchen nicht unbedingt weniger Ressourcen als die alten «Waren» – etwa dann, wenn Menschen zu Kreuzfahrten in die Arktis aufbrechen oder fürs «Volunteering» schnell mal um die halbe Welt fliegen.
Weder noch
Zurück zu Baudrillards «Eingeborenen». Was wenn sie recht hätten? Wenn die Dinge es lohnten, sich von ihnen verzücken zu zulassen? Wenn ihrem Zauber nur mit Zauber zu begegnen wäre? Was, wenn wir uns nicht von der verteufelten materiellen Welt befreien müssten, wenn die Überflussproduktion ihre Ursache nicht in unserer materialistischen Verzückung hätte, sondern ganz im Gegenteil, in unserer Geringschätzung für die Dinge dieser Welt?
Man wird vielleicht entgegnen, es komme auf die «Dinge» an. Natürlich lassen wir uns verzaubern – von der Natur! Trotzdem müssten wir uns befreien – vom erdrückenden Gewicht der Technosphäre! Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Doch gehen wir nochmals die Liste der Elemente durch, die die Technosphäre ausmachen: Städte, Dörfer, Weiden, Äcker, Strassen, Eisenbahnen, Staudämme… Was ist Natur, was ist Technik? Wo verläuft die Grenze? Zwischen Sonnenstore und Taubennest? Zwischen Kartoffeln und Ackerboden? Kiesel und Teer? Goldrute und Bahndamm? Die Technosphäre ist ein Agglomerat, eine untrennbare Mischung aus Natur und Kultur. Wo verläuft ihre Grenze, was zählt als Aussen? Die Atmosphäre? Längst haben wir ihre Zusammensetzung auf Jahrhunderte in empfindlicher Weise verändert. Die Biosphäre? Längst haben wir tausende Arten ausgerottet, Lebensräume umgekrempelt, Stoffkreisläufe umgeleitet. Überall in dieser dünnen, nur wenige Kilometer dicken «kritischen Zone», die die Erde umhüllt, sind «menschliche Bestandteile zu erkennen». Wir können nicht der einen Hälfte dieses Gemenges unsere vollste Liebe und Zuneigung widmen und der anderen Hälfte nur Kälte und Indifferenz. Die Frage ist nicht mehr oder weniger.
Da stecken wir nun also in der Zwickmühle, sitzen in der Tinte: Mehr wollen wir nicht und weniger auch nicht. Auch keinen Mittelweg, keinen Kompromiss. Da hilft nur eins: Mit einem kreativen Missverständnis, einem orthographischen «Glitch» dem Teufelskreis entspringen, in einen anderen Horizont.
Endlich, das Meer!
In Biel gibt es kein Meer. Nicht einmal ein Nebelmeer, wie zum Beispiel in Magglingen. Das ist natürlich ein Minus. Doch Biel hat das Gegenteil von Meer, es hat Sehnsucht nach dem Meer. «Nieder mit den Alpen», skandierten wir in den 1980er-Jahren vor diesem zu Geologie geronnenen Bollwerk des Spiessertums, «freie Sicht aufs Mittelmeer», so wie andernorts im Mittelland. Heute tönt diese Sehnsucht immer öfter über die Dächer der Stadt, gerufen von Mittelmeermöwen. Die Art wanderte von der Rhonemündung her in die Schweiz ein, erreichte erst den Genfer-, dann denn Neuenburger- und schliesslich den Bielersee. Die Mittelmeermöwe überrascht. Sie erreicht Bussardgrösse, fliegt aber nicht so schnell davon wie dieser. Ihr markanter Schnabel wechselt von jugendlichem braun zu gelb, als Symbol der Geschlechtsreife erscheint unterhalb der Schnabelspitze ein roter «Gonysfleck».
Die geschnäbelten Köpfe von Möwen, Gänsen, Raben aber auch andere Tiere inspirierten und inspirieren heute noch die Kwakwaka’wakw, Ureinwohner der kanadischen Vancouver-Insel. Anthropologen, die die nordwestliche Pazifikküste besuchten, waren fasziniert von den grossen, teilweise mit raffinierten Mechanismen ausgestatteten Masken, die mehrere Gesichter präsentierten. Während dem sogenannten «Potlatsch» wurden diese Masken von Tänzern getragen, sie waren aber auch wertvolle Geschenke, die zusammen mit Kupferplatten und anderen Regalien ausgetauscht wurden. Das Beschenken vermittelte Status und stabilisierte die Gesellschaftsbeziehungen der Kwakwaka’wakw. Das Herstellen der Geschenke für einen Potlatsch konnte mehrere Monate in Anspruch nehmen, während denen die Arbeit in der kolonialen Ökonomie der Weissen ruhte. Die kompetitiven Geschenke und Gegengeschenke trieben manche Familien in den Ruin. 1885 verbot Kanada den Potlatsch. In einer immer stärker auf Effizienz getrimmten Gesellschaft war dieses Ausscheren aus der kapitalistischen Warenlogik nicht länger tolerierbar.
Der Potlatsch ist kein Vorbild, aber er ist Inspiration. Der kollektive Umgang mit Dingen, mit Objekten kann ganz anders sein als in unseren «Konsumgesellschaften». Und die Alternativen sind verbreiteter als gedacht. Genau genommen sind wir von ihnen umgeben, so wie vom Meer. Das Meer gehört niemandem und allen. Den Küstenbewohnern ebenso wie den Landeiern. Den Möwen ebenso wie den Walen. Es ist ein Gemeingut, eine Allmend, um dieses etwas altertümliche und sperrige Wort zu benutzen. Unser individualisierter, achtloser, zerstörerischer Umgang mit Dingen, Objekten, Gegenständen ist nicht Alternativlos. Wir brauchen Meer, nicht weniger!
Oliver Graf berät die öffentliche Hand in Fragen der Umweltkommunikation, redigiert Texte und wirkt im Quartierladen Épicerie 79a mit. Früher untersuchte er die Vermehrung von Pflanzen auf einer Tessiner Trockenwiese und wirtete in der Genossenschaft Kreuz in Nidau. Er lebt in Biel.