Dieser Text erzählt davon, wie der brasilianische Sertão von Canudos, eine von langwierigen Dürren heimgesuchte Gegend, vor den Augen seiner Bewohner in den Fluten versank. Und wie sich Antworten manchmal erst finden, wenn die entsprechenden Fragen schon fast vergessen sind.
Ausserdem: Vision 2035 zeigt am Samstag 17. August den Film dazu: „Das Meer des Pilgers Antonio“ (siehe Infobox am Ende des Beitrags).
Seit Stunden schon rumpelt unser Bus über die staubige Strasse. Der Motorista bemüht sich, die tiefsten Löcher zu umfahren, was uns Passagiere ständig im Sitz hin- und herrutschen lässt. Der nächste wird vielleicht eher wieder die gnadenlose Direttissima wählen, was auch nicht schlechter ist für uns. Ich bin unterwegs vom südlichen Rio de Janeiro quer durch den Sertão im Nordosten Brasiliens nach São Luís, wo ich nach 3000 km Reise und mehr als 60 Stunden vom Sitz Nr. 17 aufstehen werde.
Da geht mir so Einiges durch den Kopf. Rechts und links der Strasse erstreckt sich dürres, knorrig-stacheliges Buschland. Seit gestern schon – immer dasselbe Bild. Nachts ist die karge Einsamkeit besonders eindrücklich. Nur alle paar Stunden wird die Finsternis durch ein Licht unterbrochen. Eine einsame Glühbirne einmal, die den Eingang einer einfachen Hütte beleuchtet. Als Flash bleibt dieses Bild auf meiner Netzhaut kleben, verstrickt sich mit meinen Gedanken zu endlosen Fragen. Wer nur, sind die Menschen, die hier leben? Von was ernähren sie sich mitten im ausgetrockneten Nirgendwo? Kaum ein Tier findet hier doch genug Nahrung. Das Grundwasser muss sehr tief liegen, der Regen kommt so selten!
Diese Reise liegt lange Jahre zurück, das Bild jedoch blieb hängen, und mit ihm die Frage, was Menschen dazu bewegt, auf einem so unwirtlichen Stück Erde auszuharren, immer wieder die Kraft aufzubringen, der Natur die Stirn zu bieten. Damals wusste ich noch nichts von Canudos, einer Gegend nahe meiner Busroute–genauso abhängig vom Regen wie alle dort, aber geschichtlich noch viel tiefer mit dem Wasser verbandelt.
Um diesen Ort kennenzulernen, musste mein Leben erst viele Windungen und Umwege nehmen, damit ich schliesslich hier in Biel Mendel Hardeman über den Weg lief. Er ist Holländer, jedoch in Brasilien aufgewachsen, und hatte dort als Bub im Geschichtsunterricht zum ersten Mal von Canudos gehört.
Seither ist er vernarrt in die Geschichte dieses Ortes, die lang, blutig und auch fanatisch ist. Die Gegend und die Leute müssen etwas Magisches an sich haben. Mendel jedenfalls hat es bereits beim ersten Besuch gepackt. Er investierte danach zusammen mit seiner Ehefrau Susanne Dick sieben lange Jahre Arbeit in ihren Film „das Meer des Pilgers Antonio“, um diese Magie einzufangen.
Das Kunststück ist ihnen gelungen. Und noch ein weiteres dazu! Die Filmemacher haben sich nämlich einerseits dazu entschieden, ihr Werk persönlich zum Publikum zu bringen, andererseits, auch den Protagonisten „ihren“Film zurückzugeben.
Zuerst beluden sie also einen stabilen Sackkarren mit Beamer, Verstärker und Laptop. Mit diesem reisenden Kino zogen sie, immer auf der Suche nach weissen Wänden und offenen Stuben, jahrelang quer durch Europa. So haben sie den Film hunderte Male in meist intimem Rahmen projiziert, wie eben auch im Multimondo in Biel, wo ich Mendel kennenlernte und den Film sah.
Nach den ersten Vorführungen filmten sie die Reaktionen der Zuschauer und brachten diese, zusammen mit dem Film zurück nach Canudos. Die Sertanejos erlebten dort teilweise die erste Kinovorführung ihres Lebens!
Und so kam es, dass sich die Gefilmten und die Zuschauer, die nun auch zu Gefilmten wurden, ganz nah und vertraut fühlten –obschon ein ganzer Ozean zwischen ihnen lag.
Auch bei mir geschah bei dieser Filmvorführung im Multimondo Wunderliches. Plötzlich fand ich, nach so langer Zeit, eine konkrete Antwort auf meine Frage von damals.
In der Spannung von grosser Abhängigkeit von den Launen des Wetters und zugleich einer tiefen Verbundenheit mit der Natur, zudem gebeutelt von der Unberechenbarkeit der Politik, und in den wesentlichen Fragen meist auf sich selbst gestellt: da ist der Einfluss von Religiosität umso stärker und Halt gebend. Die Geschichte der Sertanejos erzählt von Gottes Versprechen, sie wegen der ständigen Dürre stark und widerstandsfähig zu machen. Wie Mendel Hardemann sagt: „Materiellen Reichtum gibt es in Canudos kaum. Der Schatz dieser Menschen ist ihre Hoffnung, ihre Ruhe, ihr weiter Raum. So reich gefüllt mit unvorstellbaren Bildern und Geschichten.“
Und von dieser Geschichte handelt der Film. Die Gemeinschaft, die vor 130 Jahren auf der Fazenda Canudos vom Wanderprediger Antonio gegründet und als Unterschlupf für entlaufene Sklaven und Widerstandskämpfer begann, wurde 1897 vom Militär grausig zerstört, vertrieben. Zu gross erachtete die Politik die Gefahr, die von den Kritikern ihrer Machenschaften ausging.
Doch nach und nach kehrten einige zurück. Hatte der Wanderprediger nicht immer gesagt „o Sertão vai virar mar, e o mar vai virar Sertão (der Sertão wird zum Meer, das Meer zum Sertão werden)“; eine absurde Äusserung inmitten einer Wüste. Aber er behielt Recht, das Wasser kam in grossen Mengen, 70 Jahre nach seinem Tod! Mit dem Füllen des Stausees, hat sich sein „Meer“ ausgebreitet, seine Worte haben sich bewahrheitet, und die Leute mussten abermals umsiedeln. Die Kirche verschwand mitsamt den Häusern des Dorfes in den Fluten.
Seit 2012 reiht sich ein Dürrejahr ans nächste. Erst im letzten Dezember regnete es nach 6 Jahren zum ersten Mal wieder richtig. Die Repressionen im Land stellen die Bewohner unter zusätzlichen Druck. Viele Junge ziehen in die Grossstädte, um dort ihr Glück zu versuchen. Sogar der Stausee trocknete aus. Dass die für immer verschwundene Ruine der Kirche plötzlich wieder zum Vorschein kam, stärkte höchstens noch den Glauben der Alten. Auch mich lässt diese Symbolik erschaudern.
Mendel jedoch ist voller Tatendrang. Sein reisendes Kino hat er im Herbst 2018 mit seiner Familie zusammen nach Canudos gezügelt. Gemeinsam bilden sie junge Menschen aus, damit diese zukünftig vom Film von ihrer Geschichte im Jetzt leben können. „Die Jungen Leute aus Canudos, die das Dilemma spüren zwischen der grossen Welt, die anzieht und den tiefen Wurzeln, die sie mit ihrem Geburtsort verbindet“, sie erhalten eine Perspektive, so Mendel.
Das reisende Kino stösst dabei bereits auf reges Interesse in Südamerika. Der Trupp junger Leute aus Canudos wird wohl schon vor Ende 2019 die Reise durch Brasilien mit ihrem Film starten können. Die Geschichte von Canudos ist eine von Mut, Wunder und Zuversicht geprägte, aber auch eine von Widerstand, von Trotz und Ausharren – vom Leben in unwirtlicher Natur unter willkürlicher Regierung. Also genau das, was das brasilianische Volk jetzt benötigt, um stark zu sein.
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„Weder Krieg, noch Wassermassen schaffen es, die grossen Gedanken zu zerstören. Canudos ist nicht tot, Canudos lebt. Überall wo eine Gruppe Menschen träumt und kämpft…für eine Welt, wo kein Mensch ausgeschlossen wird… da ist Canudos“
Aus einer Rede bei einer Zeremonie nach der grossen Dürre 1999.
Christine Walser lebte einige Jahre in Brasilien und fühlt sich seither mit dem riesigen Land und seinen Menschen eng verbunden. Sie ist Mitglied des Vorstandes von Vision2035.
Film-Hinweise Die Vision2035 zeigt den Film „Das Meer des Pilgers Antonio“ am Samstag 17. August um 20:30 Uhr (Deutsch untertitelt) an der Mattenstrasse 81, Biel im Büro von :mlzd Architekten. Kollekte zu Gunsten des Projektes „Laufen auf Wasser“.
Trailer zum Film „Das Meer des Pilgers Antonio“
Film über das Crowdfunding und die Projekte von Mendel und Susanna Hardeman-Dick
Auszug aus einem Newsletter von Mendel und Susanne Hardeman über ihr Leben in Canudos
Die erste Ausgabe des Bieler Transition-Film-Festivals findet vom 22.8. – 16.9.2019 im Filmpodium statt.
In diesem Rahmen werden zahlreiche weitere Filme gezeigt, die Anregung zum Wandel geben oder diesen dokumentieren. Das Programm wird zu gegebener Zeit unter anderem auf www.vision2035.ch in der Agenda publiziert.